Stiftung "Humanismus heute"
21. Schülerwettbewerb
"Alte Sprachen"

Reisen- wozu?

 

Jennifer Pregler
Goethe-Gymnasium Emmendingen

 

Gliederung:

1 Einleitung
2 Textbezug
2.1 Seneca, ep.mor. 28
2.2 Horaz, ep. I, 11
3 Zusammenfassung und Ausblicke auf die Psyche des Menschen
4 Fragen zum Text
4.1 Warum Kritik gerade in der Briefform?
4.2 Warum Kritik gerade in dieser Zeit?
4.3 Warum gerade diese beiden Autoren?
a) Die Stoiker
b) Die Epikureer
5 Eigene Stellungnahme
  Literaturverzeichnis

 

1 Einleitung

Liebe Susanne,
habe ich dir schon erzählt, dass ich letzte Woche in der Schweiz Skifahren war?
Es hat riesigen Spaß gemacht, obwohl das Wetter nicht so toll war. Wir hatten fast immer unter -10° C und Wind zwischen 40 und 50 km/ h.
Außerdem hatte es in den letzten Paar Wochen kaum geschneit, sodass eh nicht viel Schnee lag und das Bisschen wurde dann noch vom Wind verblasen.
Naja, Hauptsache man konnte überhaupt fahren.
Wir sind jeden Morgen so früh wie möglich los, damit wir auch ja die Ersten am Hang waren, denn dann ist es so richtig cool, die total leeren Pisten runter zu sausen.
Als dann die anderen Skifahrer und Snowboarder kamen, sind wir erst mal "Nussgipferl" essen gegangen. Hast du schon mal die original Schweizer "Nussgipferl" probiert? Das sind einfach die besten. Die kann man überhaupt nicht mit denen aus Deutschland vergleichen.
Nach einem anstrengenden Skitag und dem wohlverdienten Mittagsschlaf gab es dann meistens Schweizer Spezialitäten wie Raclette oder Fondue. Einfach lecker!!
Den Abend ließen wir eigentlich immer mit einem Gesellschaftsspiel oder einem guten Film ausklingen, bevor es am nächsten Morgen wieder auf den Berg ging.
Deine Jenny

Meine Erwartungen, nachdem ich den Titel und die Textvorgaben gelesen hatte, waren in etwa solche, wie sie der obige Brief beschreibt.
Mein erster Gedanke war ein Referat über Reiseberichte und Reisegewohnheiten der Antike zu schreiben. Genauer gesagt darüber, wie man reiste, wer reiste, wohin man reiste oder welche Schwierigkeiten der Reisende damals hatte.
Aber nach genauerem Lesen der beiden vorgegebenen Texte wurde mir aber klar, dass das unmöglich das Thema der Arbeit sein konnte.
Wenn man den Inhalt der Briefe von Seneca und Horaz berücksichtigt, muss ein möglicher Brief etwa so lauten:

Lieber Sebastian,
Warum wunderst du dich, dass die sinnlose Sauferei auf dem Ballermann nichts bringt? Meinst du, dadurch dass du nach Mallorca fliegst, dir die volle Dröhnung gibst und am anderen Tag in deinem Hotelzimmer einbunkerst, nur weil du Kopfschmerzen hast, bringt dich über den Trennungsschmerz von Julia hinweg?
Du solltest raus in die Natur gehen, an die frische Luft, auf andere Gedanken kommen, die spanische Sonne genießen! Glaub mir, das Leben geht weiter!
Es ist nur natürlich, dass Du an Nichts Freude hast, wenn du immer an Julia denkst.
Komm nach Hause, werde erst einmal mit allem fertig und verarbeite es, dann kannst du reisen und du wirst auch wider Freude an dem Neuen haben. Aber dieses sinnlose Herumreisen bringt doch nichts!
Ich hoffe, du kommst mit dir selbst wieder ins reine.
Jenny

 

2 Textbezug

2.1 Seneca, Epistulae morales 28

Der Brief Senecas an Lucilius, der lediglich eine fiktive Person ist, lässt sich in verschiedene Abschnitte aufgliedern.

Im ersten Abschnitt (Hoc tibi ... placebit locus. [1.-3.§]), in den er den Einstieg durch eine rethorische Frage findet, wird das Problem, nämlich die Nutzlosigkeit der Reisens, wenn man Traurigkeit und Schwermut damit vertreiben will, genannt und Ratschläge eingestreut. Es gibt jedoch keine Überhäufung, da er nicht als "Besserwisser" auftreten will. Erst dann folgen Aussagen über die Gründe des Problems.
Die Reihenfolge Problemnennung - Ratschläge - Erklärung ist bewusst so gewählt, da es - psychologisch gesehen- besser ist, die für den Betroffenen oftmals harte Wahrheit hinten an zustellen. Dadurch erhält sie für ihn eine triviale Stellung und wird weniger hart empfunden.

Es folgen zwei Vergleiche zur Veranschaulichung im zweiten Abschnitt (Talem nunc ... enim concutis. [3.-4.§]). Das gelingt einerseits mittels der Literatur, genauer gesagt durch Vergil, der unter anderem das Epos "Aeneis" geschrieben hat und andererseits mittels der heutigen physikalischen Gesetze. (Vgl. Sen. ep. mor. 28, Talem … demergunt. [3.§]) Dieser Abschnitt endet mit der eigentlichen Analyse des Problems: Dem Mensch fehlt die Ruhe. (Vgl. Sen. ep. Mor. 28, Quidquid … concutis. [3.§])

Im darauffolgenden Abschnitt (At cum ... positum sit. [4.-5.§]) informiert Seneca über die Folgen und letztendlich über das Ziel. Und das Ziel heißt, bene vivere. (Vgl. Sen. ep. mor. 28, Nunc … sit. [5.§]) Da Seneca Stoiker ist, heißt "gut zu leben" für ihn "naturgemäß zu leben" (secundam naturam vivere), was wiederum gleichbedeutend mit "vernunftgemäß zu leben" ist. Nur so kann der Mensch nach stoischer Ethik zu beatitudo (Glückseligkeit) gelangen.
Alles Andere und Materielle, das für Menschen erstrebenswert halten oder gar begehren wie Besitz, Gesundheit oder Ehre, hält der Stoiker für gleichgültig. Liebe und Leidenschaft ist in seinen Augen sogar nur schlecht für den Menschen (http://www.mbradtke.de\ph001.htm).

Im vierten Abschnitt (Num quid ... liber est [6.-9.§]) geht Seneca auf die Freiheit des Menschen ein. Er betont, dass es nur eine einzige Knechtschaft gibt. Wer diese verweigert, ist frei, auch wenn es noch so viele Herrscher geben mag. (Vgl. Sen. ep. mor. 28, Quid … est. [8.§])
Außerdem sagt Seneca, dass der Weise, also der Stoiker, sein Schicksal ertragen wird, aber nicht auswählen. (Vgl. Sen. ep. mor. 28, Sapiens … pugna. [7.§])
Denn nach der stoischen Lehre muss der Mensch lernen, sich mit seinem Schicksal zu versöhnen. Nichts geschieht zufällig. Alles geschieht notwendigerweise und es hilft wenig, seine Not zu bejammern (Gaarder, S. 160).

Im letzten Abschnitt (Tempus est ... Vale [9-10]), in dem er sich von seinem fiktiven Freund verabschiedet, gibt Seneca ihm nochmals einige Ratschläge, die aber nicht auf das Reisen bezogen sind, sondern allgemein gefasst werden. Er beruft sich auf Epikur, den Begründer der epikureischen Schulen (Gaarder, S. 160), und sagt daraufhin: Daher, soviel du nur kannst, beschuldige dich selbst und erforsche dich. Übernimm zuerst die rolle des Anklägers, dann die des Richters und zu letzt die eines Fürsprechers. (Vgl. Sen. ep. mor 28, accusatoris … deprecatoris. [10.§])

 

2.2 Horaz, Epistulae I, 11

Auch der Brief von Horaz lässt sich in entsprechende Abschnitte gliedern. Horaz schreibt an Bullatius und beginnt im ersten Abschnitt (Quid tibi ... spectare furentem? [v.1-10]) mit Fragen an ihn, aus denen wir herauslesen können, dass Bullatius sich auf einer Reise zu den Sehenswürdigkeiten Griechenlands befand. Er erwähnt unter anderem Lesbos, Symra und Kolophon.
Mit einem ironischen Unterton fragt er, ob sie [die Sehenswürdigkeiten] in den Schatten treten neben Marsfeld und Tiberstrom. (Vgl. Horaz ep. I, 11, cunctane ... sordent. [v. 4]) Fast so als wollte er fragen, ob sich die Reise gelohnt hat.
Nebenbei stellt er noch klar, dass er selbst lieber in Ruhe in einem Nest leben will, um sich die Hektik aus der Ferne anzuschauen. Es vergleicht das mit Neptun, der in der Ferne rast. (Vgl. Horaz ep. I, 11, Neptunum … furentem. [v. 10])

Im nächsten Abschnitt (Sed neque ... mare vendas. [v.10-16]) kommt sehr stark seine philosophische Einstellung zutragen. Horaz ist Epikureer.
Die epikureische Lehre besagt zwar, das Ziel des Lebens sei jeder Form von Schmerz zu entgehen, doch wird auch ein kurzfristiges lustvolles Resultat mit einem dauerhaften oder intensiveren verglichen. Es wird also eine "Lustberechnung" angestellt (Gaarder, s. 160/61). Er bringt drei Beispiele zur Veranschaulichung. (Vgl. Horaz ep. I, 11, nec… vendas. [v. 12-16])

Im dritten und letzten, aber auch längsten Abschnitt (incolumi ... aequus. [v.17-30]) geht Horaz speziell auf das Reisen ein. Er stellt die These auf, dass jemand der keine Sorgen und Nöte hat, also völlig glücklich und zufrieden ist, gar nicht das Bedürfnis verspürt zu reisen. Er vergleicht das mit einem Mantel im Sommer, einem leichten Lendenschutz im Winter, einem Kaminfeuer im August und ein Bad im Tiber zur Wintersonnenwende. (Vgl. Horaz ep. I, 11, incolumi ... caminus. [v. 16-19])
Außerdem umschreibt er die Redewendung carpe diem. (Vgl. Horaz ep. I, 11, tu ... dicas. [v. 22-25])

In den letzten sechs Zeilen des Briefes kommt er zum zentralen Punkt, in dem er mit Seneca übereinstimmt. "Man kann seinen Sorgen nicht davon laufen!" (Vgl. Horaz ep. I, 11, nam ... currunt. [v. 25-27])

Man soll das Lebensglück nicht mit Schiffen oder Viergespannen suchen. Es liegt oft in der Heimat. Nicht zu letzt ist das Lebensglück der animus aequus , der ausgeglichene Sinn. (Vgl. Horaz ep. I, 11, navibus … aequus. [v. 28-30])

 

3 Zusammenfassung beider Texte und Ausblicke auf die Psyche des Menschen

Obwohl die Autoren in verschiedene philosophische Richtungen neigen, kann man ein gemeinsames Argument in beiden Texten entdecken, das sinnlose Herumreisen.
Ein solches Reisen ist keine Erholung, es ist geradezu ein Symptom eines krankhaften Seelenzustandes, der therapiert werden muss. Das innere Gleichgewicht gilt es wieder herzustellen, denn das planlose Reisen soll nur die innere Leere und Unzufriedenheit überdecken. Und solange dieser Mangel nicht behoben ist, wird auch das Reisen nichts helfen, denn man nimmt sich immer selbst mit. Der kranke braucht einen Arzt, keine andere Gegend. Der Mensch muss sein Inneres verändern, nicht seinen Aufenthaltsort (S. Giebel, S. 21).

Und genau dieses Symptom macht sich der heutige Massentourismus zu Nutze. Genauer gesagt: er vermarktet es.
Alle Pauschalangebote und Last-Minute-Flüge sind Möglichkeiten für die Menschen sich zu narkotisieren, im Sinne einer Sinnüberreizung. Die Menschen fahren in fremde Länder, um sich berieseln zu lassen, sei es durch ganztägige Animationsprogramme oder durch sinnlose Sauferei an beliebten Partyzielen.

 

4 Fragen zum Text

4.1 Warum Kritik gerade in der Form?

Beide Autoren, Seneca und Horaz, verwenden die Briefform, um ihre "Botschaft" zu übermitteln. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass Horaz die poetische Briefform wählt, wie man leicht an dem Hexameter erkennen kann.
Seneca bevorzugt den prosaischen Brief.
Beides sind jedoch Kunstbriefe, da sie nicht im privaten Briefwechsel entstanden sind. Beide Autoren haben die Absicht in der Form eines persönlichen Briefes den Menschen und zwar allen, vorsichtig eine versteckte Botschaft mit zuteilen. Sie wollten nämlich nicht als "Besserwisser" da stehen und ihre Ansichten in einer offiziellen Rede vor einem großen Publikum vortragen.

 

4.2 Warum Kritik gerade in dieser Zeit?

Mit "dieser Zeit" ist eigentlich die Pax Augusta gemeint. Sie bezeichnet den Frieden im römischen Imperium während der Kaiserzeit. Die Pax Augusta ging dauerte von der Zeitwende bis etwa zur Mitte des dritten Jahrhunderts. Ihr Ende kam mit den Soldatenkaisern, die die innere Stabilität, und mit dem Ansturm fremder Völker, die die äußere Stabilität zerschlugen. Genau diese Zeit war die Blüte des Reisens in der Antike. Man konnte sozusagen ohne Pass, mit einer Währung und ohne Visa fast grenzenlos reisen.
Die Gründe dafür waren wohl der wachsende Wohlstand und die allgemeine Mobilität. Deshalb gab es auch neben den Soldaten und Händlern, die die Reise als Mittel zum Zweck sahen, immer mehr Touristen im heutigen Sinn, die einfach aus Lust und Laune reisten. Allerdings kamen sie fast ausschließlich aus der Oberschicht.
Zur Zeit des Trajans konnten die Reisenden ein 70.000 km langes, gut ausgebautes Straßennetz nutzen. Oder aber sie fuhren als Passagiere auf Handelsschiffen mit (Giebel ,S.131).

 

4.3 Warum gerade diese beiden Autoren?

Beide Autoren waren Philosophen, die beide etwa in der oben erwähnten Blütezeit des Reisens lebten und sich nach gegensätzlichen Grundprinzipien orientierten.
Seneca gehörte zu den Stoikern. Horaz war Epikureer.

a) Die Stoiker

Die stoische Philosophie kam um 300 v. Chr. in Athen auf. Ihr Begründer war Zeneon. Er versammelte seine Anhänger immer in einem Säulengang. Daher stammt der Name auch von dem griechischen Wort für Säulengang (Stoa).
Der stoischen Philosophie zu folge haben alle Menschen an der selben Weltvernunft (Logos) teil. Der Mensch ist eine Welt im Miniaturformat, ein "Mikrokosmos", der den "Makrokosmos" wiederspiegelt.
Dieser Gedanke war die Grundlage für das sogenannte Naturrecht.
Es ändert sich nicht mit Ort und Zeit, da es sich auf die zeitlose Vernunft des Menschen und Universum gründet.

Das Naturrecht gilt für alle Menschen.
Außerdem wird betont, dass alle Naturprozesse den unwandelbaren Gesetzen der Natur folgen. Der Mensch muss sich daher mit seinem Schicksal versöhnen.
Nichts geschieht durch Zufall. Alles geschieht notwendigerweise und es hilft wenig, seine Nat zu bejammern. Auch die glücklichen Zustände des Lebens muss man mit größter Ruhe hin nehmen (Gaarder, S. 159/60).

b) Die Epikureer

Aristippos, ein Schüler des Sokrates, hielt es für das Ziel des Lebens, soviel Genuss wie möglich zu erlangen. Das höchste Gut sei die Lust, sagte er, und das größte Übel der Schmerz. Deshalb wollte er in seinem Leben jeder Form von Schmerz ausweichen. (Die Stoiker wollten ihn aushalten.)
Epikur führte das Werk Aristippos' weiter. Er wollte das lustvolle Ergebnis mit einer dauerhaften oder intensiveren Lust vergleichen. Der Mensch kann nämlich sein Leben planen. Er kann eine "Lustberechnung" anstellen.
Außer dem sinnlichen Genuss gibt es auch noch die "lustvolle" Freundschaft oder das "lustvolle" Erlebnis der Kunst.
Als Voraussetzungen für den Genuss des Lebens galten Tugenden wie Selbstbeherrschung oder Mäßigung. Denn Genuss muss gezügelt werden (Gaarder, S. 160/61).

Ich denke, es wurden gerade diese beiden Autoren ausgewählt, da sie trotz verschiedener Philosophien sich in einem Punkt einig sind: Reisen ist ein Symptom der Krankheit der Seele.

 

5 Eigene Stellungnahme

Ich kann für mich nur sagen, dass Reisen, um wieder zur Ausgangsfrage zurück zukommen, nicht nur den Grund der Betäubung hat.
Wenn ich reise, möchte ich fremde Länder, fremde Kulturen und neue Leute kennen lernen. Und zwar so, wie sie wirklich sind. Weder von einem Kreuzfahrtsschiff aus, noch in einer Hotelanlage mit Rundumbetreuung. Und ganz bestimmt nicht, um mich berieseln zu lassen, sondern um sie selbst zu erleben.
Allerdings denke ich, da stimme ich mit unseren beiden Philosophen überein, dass man, bevor man in die Ferne schweift, erst einmal seine eigene Heimat kennen soll. Wie viele Leute gibt es, die schon in Asien waren, die Pyramiden gesehen haben oder an den Niagarafällen standen, aber nicht einmal die heimatlichen Berge, Flüsse oder sonstige "sights" kennen.

Abschließend würde ich Seneca gerne noch etwas fragen:
Du schreibst an Lucilius, dass man mit folgender Überzeugung leben soll: Ich bin nicht nur für einen Winkel geboren, meine Heimat ist die ganze Welt. (Vgl. Sen. ep. mor. 28, Cum … est. [4.§])
Warum schreibst du dann aus deinem Exil auf Korsika die Cosolatio ad Polybium mit demütiger Bitte um Begnadigung? (http://www.info-antike.de\senecaf.htm)

 

Literaturverzeichnis

Textausgaben:

Verwendete Literatur zum Thema:

 

Jennifer Pregler
Goethe-Gymnasium Emmendingen

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