Geschichte der Türkei ab 1918
Der Untergang des Osmanischen Reiches
Da der Vorläuferstaat der heutigen Türkei, das Osmanische Reich, an der Seite der beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich - Ungarn in den Ersten Weltkrieg eingriff - und die Mittelmächte bekanntlich verloren - gehörte auch das Osmanische Reich zu den großen Verlierern des Krieges.
Es konnte weder den Status einer - wenn auch krankenden - Großmacht
verteidigen, noch große Gebietsabtretungen verhindern. So gingen während des
Krieges der Irak, Palästina und Syrien verloren.
Im Friedensvertrag von Sèvres musste sich der Sultan damit abfinden,
dass das Osmanische Reich aufgelöst wurde und die Türkei entstand, die allerdings
auf Kleinasien und einen kleinen Teil Europas beschränkt wurde.
Der "Kranke Manns am Bosporus" war nun endgültig gestorben und der Sultan
war nicht mehr, wie über viele Jahrhunderte zuvor, Herrscher über die Osmanische
Weltmacht, sondern über einen relativ unbedeutenden Staat, der gesellschaftlich
wie technologisch den Mandatsmächten England und Frankreich um Jahrhunderte
nachhinkte.
England und Frankreich teilten sich die abgetrennten Gebiete, wie schon während
des Krieges in einem Geheimvertrag festgeschrieben worden war, in jeweilige
Interessensphären auf, so dass das faktische Machtvakuum des untergegangen
Großreiches durch zwei Weltmächte ausgefüllt wurde.
1919 versuchte sich Griechenland auch ein Stück von dem gefallenen Riesen einzuverleiben;
das griechische Militär besetzte kurzerhand Smyrna - das heutige Izmir
- und plante, die alten griechischen Gebiete wieder dem Mutterland anzugliedern.
In den türkischen Gebieten gab es seit einigen Jahren eine Welle des Nationalismus,
dem viele Nichttürken zum Opfer fielen. Diese Welle wurde noch verstärkt, da
es als nationale Schande angesehen wurde, dass das Heimatland unter Fremdherrschaft
stand. Speziell die Okkupationen durch den alten griechischen Erzfeind wurden
als untragbar angesehen.
Hier trat zum erstenmal Kemal Pascha, der spätere Kemal Atatürk,
auf die politisch- militärische Bühne: Er stellte sich schon 1919 an die Spitze
einer nationalistischen Widerstandsbewegung, die ihren Ursprung in den
anatolischen Gebieten der Türkei hatte. Dieser griechisch- türkische Krieg wurde
von den Türken unter Atatürk gewonnen und im Frieden von Lausanne 1923 beendet.
Dieser Vertrag brachte der jungen Türkei enorme Verbesserungen im Vergleich
zum Vertrag von Sèvres:
Die Entstehung des modernen türkischen Staates
Nachdem der letzte Sultan Muhammad VI. abgesetzt worden war, wurde am29.10 1923 die Republik ausgerufen. Erster Präsident dieses neuen Staates wurde Kemal Atatürk.
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Kemal Atatürk
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Atatürk hatte sich zum Ziel gesetzt, die neugegründete Türkei zu einem westlich
geprägten, säkularen Industriestaat zu machen.
Um diese Ziele zu erreichen gingen von Atatürk viele Reformen aus, die das Bild
der heutigen Türkei noch immer bestimmen.
Zur Person Kemal Atatürk:
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Grabmal Atatürks in Ankara
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Die großen Reformen Atatürks:
Der Regierungsstil Atatürk
Atatürk herrschte nach den Prinzipien des nach ihm benannten "Kemalismus" oder "Atatürkismus". Dieses System, das von ihm in einer faktischen Einmanndiktatur gelenkt wurde, basierte auf sechs Grundpfeilern, die ihm ermöglichten, trotz der Alleinherrschaft mit der Unterstützung einer großen Allianz bestehend aus der zivilen wie militärischen Bürokratie, dem neu entstandenen Bürgertum wie auch den Großgrundbesitzern, den jungen Staat zu innenpolitisch zu stabilisieren und außenpolitisch abzusichern.
Die sechs Eckpunkte des Kemalismus waren:
Atatürks Tod und Vermächtnis
Atatürk starb 1938 in Istanbul. Ohne seine charismatische, wenn auch
autokratische Herrschaft, hätte sich die Türkei sicherlich nicht so schnell
auf den langen Weg hin zum westlichen Industriestaat gemacht. Man kann
heute im Rückblick sicherlich mit Recht sagen, dass Kemal Pascha Atatürk der
richtige Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit war, denn nur durch seine
Person ist es zu erklären das weder radikal- islamische Kräfte, noch rechte
Großmachtsträumereien in der Türkei nach und während Atatürks Wirken eine reelle
Chance hatten und haben.
Allerdings muss noch einmal gesagt werden, dass es sich bei seiner Art zu Herrschen
keinesfalls um eine Demokratie gehandelt hat: So war das Parlament
keine Volksvertretung im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Tagungsort
für unterschiedliche Interessengruppen, die hier versuchten ihre jeweiligen
Vorstellungen umzusetzen.
Die Türkei nach Atatürk
Direkter Nachfolger Atatürks wurde sein enger Weggefährte Ismet Inönü. Dieser
setzte die die Politik Atatürks fort. Ihm gelang die Türkei mit schwankender
Neutralität aus dem zweiten Weltkrieg herauszuhalten, doch erklärte er 1945
an der Seite der Alliierten Deutschland und Japan doch noch den Krieg, da die
Türkei nur so die Möglichkeit erhielt der UNO beizutreten.
Das Amt des Staatspräsidenten hatte er bis 1950 inne, dann jedoch verlor seine
(und Atatürks) Republikanische Volkspartei die Macht an die Demokratische Partei.
Im Jahre 1952 wurde die Türkei Mitglied der antikommunistischen NATO. Die USA
hatten sich sehr um die Mitgliedschaft der Türkei bemüht, da sie eine herausragende
geopolitische Lage hatte, um das kommunistische Sowjetreich in Schach zu halten.
1960 kam es zum Eingreifen des Militärs, da die herrschende Demokratische Partei
so stark war, dass das entstandene pluralistische Parteiensystem der Türkei
gefährdet zu sein schien. Die Führungsspitze der Demokratischen Partei wurde
durch eine Verurteilung wegen Verfassungsbruchs verhaftet, der Parteiführer
Menderes sogar erschossen. Die Militärs rechtfertigten ihr Handeln mit dem Willen
Atatürks, der von der Armee gefordert hatte die Demokratie und die Verfassung
zu schützen.
Doch behielt die Armee - wie auch von Atatürk gefordert - die Macht nicht, so
dass 1961 Neuwahlen abgehalten wurden.
Die Stabilität sollte aber nicht von langer Dauer sein.
Bereits 1970 kam es wegen der ungelösten Zypernfrage, die zu nationalistischen
Studentenunruhen und Terror führte, zu einem erneuten Militärputsch. Doch wiederum
beharrte das Militär nicht auf der neu errungenen Macht, so dass 1971 Bülent
Ecevit zum erstenmal Regierungschef wurde.
1974 besetzten türkische Truppen den Nordteil Zyperns. Dies führte zu einer
erneuten Woge der nationalen Begeisterung, verursachte aber eine noch heute
vorhandene Teilung Zyperns in eine rein türkische und eine rein griechische
Hälfte, da die jeweils anderen aus den Gebieten deportiert wurden.
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Bülent Ecevit
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Aber auch diese Phase sollte nur zehn Jahre andauern. 1980 war die innenpolitische Lage der Türkei prekär:
Da die Situation ausweglos erschien, sah sich wiedereinmal das Militär genötigt
für politische Ordnung zu sorgen. So übernahm am 12. September 1980 die Armeespitze,
unter Jubelrufen der Bevölkerung, die Regierungsgewalt in Ankara. In der nächsten
Zeit danach wurden nicht nur längst fällige Gesetze und Reformen umgesetzt,
es wurde auch eine Überarbeitung der Verfassung durchgeführt um das Entstehen
solcher Situationen in Zukunft zu verhindern. Allerdings muss auch erwähnt werden,
dass das Militär die Macht ausnutzte, um politische Gegner zu verhaften oder
hinzurichten. In den drei Jahren bis 1983 herrschte nicht nur die Willkür der
Armee, sondern auch ein Verbot sämtlicher anderen politischen Aktivität.
Die Überarbeitete Verfassung wurde 1983 in einer Volksabstimmung mit überwältigender
Mehrheit angenommen, so dass es noch im selben Jahr zu Neuwahlen kam. Der neue
Premierminister hieß Turgut Özal und führte die Türkei weiter auf den Weg der
Europäisierung.
Seit 1983 ist das politische System der Türkei weitestgehend stabil geblieben,
was die Möglichkeiten der Türkei auf eine baldige EU- Mitgliedschaft steigen
lässt. Allerdings gibt es auch noch eine Reihe ungelöster Probleme, deren dringenstes
wohl die Kurdenfrage ist.
Die Kurden werden im Osten der Türkei noch immer durch die türkische Armee unterdrückt,
was diese dann in den Untergrund treibt.
Es bleibt die Hoffnung, dass das kürzlich verabschiedete Reformpaket, das unter
anderem auch die Abschaffung der Todesstrafe enthält, die weitere Europäisierung
der Türkei vorantreiben wird und somit auch den benachteiligten Bevölkerungsgruppen
helfen könnte.
Steffen Kappus
August/September 2002